You Can’t Judge A Book By The Cover # 7: Erik Kirschbaum „Rocking The Wall“

bruce_books00Angenommen, ich hätte die Möglichkeit, mithilfe einer Zeitmaschine ein historisches Konzert von Bruce Springsteen zu besuchen, dann kommt für mich nur dieses Datum in Frage:

  1. Juli 1988.

Ich war noch keine sechs Jahre alt, ich wusste nicht einmal von seiner Existenz, geschweige denn von diesem Ereignis. Aber es war mehr als „nur“ ein Konzert.

In 2004 erhielt ich dank eines netten Springsteen-Fans und Veteranen des 19. Juli 1988 die DVD zum Konzert und ich konnte mir nun ein besseres Bild von diesem Ereignis machen.

Zum 25jährigen Jubiläum im Jahr 2013 wurde an das Konzert gedacht. Am 5. Juli 2013 brachte der MDR eine Sendung über den „Rocksommer 1988“ und einen Ausschnitt vom Springsteen-Konzert. Der „SUPERillu“, ein Magazin, zu dessen ersten und treuesten Lesern meine Eltern und ich gehörten, brachte eine dreiteilige Artikelserie zu diesem Ereignis. (Apropos Treue: Durch meine Übersiedlung nach Österreich verlor ich das Interesse an der Zeitschrift und vor wenigen Jahren verabschiedeten sich auch meine Eltern von diesem Magazin, weil einer atemlos Unaussprechlichen zu viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde.)

Die deutschsprachige Ausgabe der „Rolling Stone“ präsentierte im Juli 2013 die „Stasi-Akte Springsteen“. Der Autor dieses Artikels ist kein Geringerer als Erik Kirschbaum, der kurz davor sein Buch „Rocking The Wall“ veröffentlichte. Im Nachhinein sollte es sich herausstellen, dass der Artikel eine nette Zusammenfassung zum Buch ist.

Da ich damals keine brauchbaren Rezensionen zum Buch fand, wartete ich auf eine günstige Gelegenheit. Knapp ein Jahr später erstand ich das englischsprachige Taschenbuch bei eBay um 1 EUR zuzüglich Versand.

Erik Kirschbaum ist New Yorker und arbeitet hauptberuflich als Korrespondent für die Nachrichtenagentur „Reuters“ in Berlin. Nach einem Konzert von Bruce Springsteen am 20. Oktober 2002 in Berlin erlebte Kirschbaum eine schicksalhafte Begegnung mit einem Taxifahrer. Dieser schwärmte ihm vom Konzert am 19. Juli 1988 und behauptete steif und fest, dass es das Unglaublichste war, was jemals in der ehemaligen DDR passierte.

Seitdem ließ Kirschbaum dieses Thema nicht mehr los und er beschäftigte sich mit der Antwort auf die Frage, ob dieses Konzert zum Fall der Mauer am 9. November 1989 beigetragen hat.

In „Rocking The Wall“ beschreibt Kirschbaum sehr akribisch, in einzelne Kapitel unterteilt, sowohl die Beweggründe für als auch die Hintergründe zum Konzert am 19. Juli 1988. So verflechtet er auch ganz geschickt die Bedürfnisse nach Veränderung, die einerseits Bruce Springsteen und andererseits die DDR betreffen, miteinander.

Bruce Springsteen dürfte den Zenit seiner Karriere erreicht haben. Sein Album „Born In The U.S.A.“ verkaufte sich Millionen Mal und sein Ruf als erfolgreicher Stadionrocker mit der E Street Band hat sich auch gefestigt. Er geht langsam auf die 40 zu. Von einer Art Torschlusspanik erfasst, heiratet er die Schauspielerin Julianne Phillips. Doch bald merkt er, dass die Ehe nicht seinen Vorstellungen entspricht und das wirkt sich auf sein nächstes Album, „Tunnel Of Love“, aus. „Tunnel Of Love“ trägt die Bürde eines Nachfolgealbums und das Publikum reagiert dementsprechend. Auch wurde das Album hauptsächlich im Alleingang von Bruce Springsteen eingespielt, der – im Gegensatz zum Vorgängeralbum aus 1984 – nur einzelne Musiker der E Street Band heranließ. Die im Anschluss stattfindende „Tunnel Of Love Express Tour“ findet in kleineren Veranstaltungsstätten statt und einige Mitglieder der E Street Band stehen nicht mehr in ihren gewohnten Positionen auf der Bühne.

Die DDR geht auch langsam auf die 40 zu und die Zeichen stehen auf Verfall. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst, der Plansoll ist kaum zu erfüllen, nur die Betonköpfe im Zentralkomitee wollen die Signale nicht erkennen. Selbst das berühmte „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ von Michail Gorbatschow will Erich Honecker, seinerzeit Generalsekretär des ZK, nicht zur Kenntnis nehmen.

Im April 1981 spielte Bruce Springsteen mit der E Street Band ein paar Konzerte in Deutschland, unter anderem auch in West-Berlin. Er nutzte die Möglichkeit, Ost-Berlin als Tourist zu besuchen. Während des Aufenthaltes wurde ihm bewusst, dass diese Menschen ihn nie live erleben würden und so formte sich in ihm der Wunsch, einmal in Ost-Berlin zu spielen. Doch war zu Beginn der 1980er Jahre das Verhältnis zwischen den kapitalistischen und den sozialistischen Staaten noch sehr angespannt, welches sich auch in den Olympischen Sommerspielen 1980 und 1984 gipfelte.

Gegen Ende der 1980er Jahre war eine spürbare Auflockerung bemerkbar, obwohl die DDR bis zum Schluss eine der restriktivsten kommunistischen Staaten war. Dennoch entging es der Bevölkerung nicht, dass es jemanden wie Michail Gorbatschow gab und er für „Glasnost“ & „Perestroika“ stand.

Wie so oft spielten Zufälle und besondere Ereignisse ihre Rollen, die das Konzert von Bruce Springsteen auf dem Gelände der Weissenseer Radrennbahn ermöglichten:

Im Sommer 1987 fanden auf der Wiese vor dem Berliner Reichstag ein paar Konzerte statt. Viele DDR-Bürger begaben sich in der Nähe des Antifaschistischen Schutzwalls, um David Bowie, Genesis oder Eurythmics hören zu können. Der Staat griff brutal ein. Westliche Musik hören war eine Straftat, die geahndet werden musste.

Das hielt West-Berlin aber nicht davon ab, im Sommer 1988 wieder in der Nähe der Mauer hochkarätige Musiker auftreten zu lassen: Pink Floyd und Michael Jackson.

Der FDJ („Freie Deutsche Jugend“), die einzige staatlich akkreditierte Jugendorganisation, behagte diese gewalttätigen Szenen nicht und sie stellten zur gleichen Zeit ihre eigenen Konzerte auf die Beine. Mit Bryan Adams, Joe Cocker und James Brown versuchten sie, die DDR-Bürger von der Mauer wegzulocken.

Diese Konzerte waren auch ein gut gemeinter Versuch der FDJ, die die spürbare Unzufriedenheit der jungen DDR-Bürger erkannte. Sie hofften, mit diesen Konzerten der Stimmung entgegenwirken zu können.

Mit einem Gerücht, Bruce Springsteen habe für eine Druckereipresse in Nikaragua gespendet, konnte der damalige Organisationsleiter der FDJ, Gerald Ponesky, die Oberen überzeugen, Bruce Springsteen nach Ost-Berlin zu holen und das Konzert zu stemmen. So wurde für Bruce Springsteen auch eine Stasi-Akte angelegt und hervorzuheben ist ein Eintrag: „[…] seine Texte – von harten, ungeschönten Songs über die Schattenseiten der amerikanischen Wirklichkeit bis hin zu poetischen Balladen – haben ebenso zu seinem Erfolg beigetragen, wie solides musikalisches Handwerk, das besonders seine Liveshows zu einem besonderen Erlebnis werden lassen.“ Des Weiteren ist in der selben Akte vermerkt, dass „die Künstler über das politische Anliegen des Konzertes (antiimperialistische Solidarität mit Nikaragua) informiert worden sind und es akzeptieren.“

So war das „Konzert für Nikaragua“ geboren. Gerald Ponesky gibt im Buch zu, dass er und die FDJ ohne diese „Nikaragua“-Geschichte niemals die Erlaubnis bekommen hätten, das Konzert zu organisieren – aber man hatte die Rechnung ohne den „Boss“ gemacht.

Ohne „Nikaragua im Herzen“ verlangten Bruce Springsteen und sein Manager, Jon Landau, dass dieser Zusatz verschwinden soll. Springsteen will in Ost-Berlin für die Menschen spielen, fernab irgendwelcher politischen Noten. Folglich wurden Konzertplakate und die Leinwände auf den Bühnengerüsten entfernt. Doch auf den 160.000 (und mehr) gedruckten Eintrittskarten blieb das „Nikaragua“-Makel haften, das Bruce Springsteen nach wie vor gegen den Strich ging.

Am 19. Juli 1988 brachen Tausende von Menschen aus der DDR nach Berlin-Weissensee auf. Aus allen Ecken strömten sie und es zeichnete sich ab, dass mehr als die 160.000 Leute kamen. Leider gibt es keine offiziell bestätigte Zahl, aber Beobachter sprechen von 300.000 bis 500.000 Besuchern.

Und sie hatten alle nur ein Ziel: Bruce Springsteen live erleben. Möglicherweise wird es ein einmaliges Erlebnis bleiben. Wer weiß, wann sie noch einmal die Gelegenheit bekommen werden? Wer weiß, wie lange die Tauwetter-Politik des großen Mutterstaates noch gut geht?

Das siebente Kapitel betitelt Kirschbaum mit „Storming The Gates“. In diesen Seiten gibt er Erlebnisberichte von Anwesenden wieder und konstruiert somit eine leicht heroische Verklärung, dass der 19. Juli 1988 einen Vorgeschmack auf den 9. November 1989 bot. Überforderte Einlasskontrollen, die provisorisch aufgestellten Büdchen wurden einfach niedergetrampelt, Leute kamen ohne Eintrittskarten auf das Gelände. Roland Claus, damals FDJ-Funktionär und für die Sicherheit verantwortlich, erinnert sich, dass der Andrang so groß war und die Organisatoren entschieden sich, alle Tore zu öffnen, die Absperrungen wegzuräumen und jeden hereinzulassen, um ein größeres Unglück zu verhindern.

Wie gründlich Kirschbaum an diesem Buch gearbeitet hat, zeigt auch seine Interpretation zu „Badlands“ als Eröffnungslied. Während der „Tunnel Of Love Express“-Tour wurde dieses Lied so gut wie nie gespielt, aber so wie am 5. November 1980 nutzte Bruce Springsteen dieses Lied, um seine politische Haltung auszudrücken. Wie zweideutig kommt doch dieser Text durch diesen Abend!

Da Bruce Springsteen diese „Nikaragua“-Geschichte immer noch störte, entschied er sich für eine direkte Ansprache an das Publikum, dessen historische Bedeutung auf jeden Fall zu würdigen ist:

Es ist schön, in Ost-Berlin zu sein. Ich bin nicht für oder gegen eine Regierung. Ich bin gekommen, um Rock’n’Roll für euch zu spielen in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren abgerissen werden.

Sowohl im Buch als auch im „Rolling Stone“-Artikel ist die turbulente Vorgeschichte zu lesen. Hervorzuheben ist, dass Bruce Springsteen eigentlich der einzige „Klassenfeind“ war, der auf diesem Boden eine solche Ansprache gehalten hat!

Zum Konzert an und für sich hat Kirschbaum nicht viele Worte gefunden, er war selbst nicht dabei, aber in einem weiteren Kapitel lässt er ein paar ausgewählte Konzertbesucher ihre emotionalen Erlebnisse schildern. Was eigentlich als ein Affront galt, war in diesen Stunden des 19. Juli 1988 erlaubt: Selbstgebastelte USA-Flaggen wurden zum Konzert mitgenommen und nicht wenige im Publikum sangen lauthals „Born In The U.S.A.“ mit.

Das Konzert hat zwar nicht die Mauer zu Fall gebracht, aber eine deutliche Richtung war erkennbar. Nach 25, 30 Jahren und der heutigen aktuellen politischen Situation in Deutschland und dem Rest der Welt verfällt man in einer Art von Nostalgie. Gern schreibt man von einem spürbaren Geist, vom sogenannten „Spirit In The Night“. Die 160.000 plus Leute kamen friedlich zusammen, um einen bedeutenden US-amerikanischen Rockmusiker zu erleben. Und dieser Mann wurde wieder seinem Ruf gerecht, ein Sprachrohr für den „kleinen hart arbeitenden Mann“ zu sein. Er sprach sogar zum Volk. Und das Volk verstand die Botschaft.

Mittlerweile gibt es erweiterte Auflagen und deutschsprachige Ausgaben des Buches. Eine in allen Richtungen bereichernde Lektüre!

Weiterführende Links:

https://www.wvtf.org/arts-culture/2014-11-06/rocking-the-wall

https://www.tagesspiegel.de/berlin/konzert-in-berlin-weissensee-bruce-springsteen-born-in-the-ddr/8505174.html (Artikel im Tagesspiegel)

https://www.superillu.de/ddr-1988-der-sommer-love (Online Artikel zur Serie im „SUPERillu“ aus 2013.)

http://brucespringsteen.net/news/2012/bruce-thanks-germany-with-premiere-of-when-i-leave-berlin (Auszug aus brucespringsteen.net)

https://www.youtube.com/watch?v=m0qwGkedN1Y (Der Chauffeur spricht!)

„It’s great to be here in East Berlin…“

8 Kommentare

  1. Was soll ich sagen… Ich bin kein ausgewiesener Bruce-Fan, wie die Kraulquappe und Du, aber bei diesem Konzert war ich 19-jährig tatsächlich eine der 160-300tausend… es war wirklich ein einmaliges Erlebnis…
    Ich hätte nicht mehr gewusst, dass der Opener „Badlands“ war, aber mein Heimatradiosender widmete diesem Ereignis heute morgen ein paar Minuten Sendezeit.
    Ich hätte euch beiden das Erlebnis gewünscht. Dank Dir für den Buchtipp. Liebe Grüße, Birgit

  2. Bei Bruce war ich dienstlich verhindert; aber paar Tage (Wochen?) früher war ich bei Fisher Z und vor allem bei Marillion (NOCH MIT FISH als Sänger!) War schon geil!

    Als Zusatzinfo zu diesen Konzerten der 80er empfehle ich Broeckers/Schreyer „Wir sind die Guten“ – darin u.a. aufschlussreichen Enthüllungen auch ein Essay über Provokation und Musik:
    Vor dem Reichsttag in Westberlin war vor 1980 tote Hose; zu dicht an der Mauer; Entspannungspolitik usw. Das andere Lager nicht provozieren. 1969 war es an der Mauer (Ostseite) zu Tumulten gekommen, weil ein RIAS-Moderator behauptet hatte, die Stones würden auf dem Dach des Springergebäudes für die Ossis spielen.

    Ab 1980 Reagan, später Kohl kehrte eine neue Form der Vergletscherung zwischen den Lagern zurück und der Westen begann das Arreal in Mauernähe zu nutzen. „Wem der Zahn tropft, der wird Veränderungen herbeiführen“

    Meiner Erinnerung nach müssten Barclay James Harvest Herbst 1981 mit ihrem „Berlin – concert for the people“ die ersten gewesen sein; Vorbands damals mehrere der „Berliner Szene“ Interzone, Ideal usw. – und NINA Hagen; Feuertaufe der NDW.

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